Zurück in die Gegenwart

In meinem Wohnzimmer steht eine Zauberkiste, die ermöglicht mir einen Blick in die Gegenwart. Für die Vergangenheit habe ich meine Kamera. Für die Zukunft habe ich Agathe.

Wie – Sie kennen meine Agathe nicht?

Agathe war der Renner beim Sommer-Picknick-Freundestreffen neulich hier bei mir. (Natürlich hier bei mir – ich trage ja Agathe nicht mit mir rum. Obwohl das möglich wäre, klein und handlich wie sie ist passt sie in jede Handtasche). Jeder hatte ein Frage an Agathe, die Erwachsenen genauso wie die Kinder. Kurz kamen Zweifel auf, ob Agathe uns auch alle versteht. Aber dann haben wir festgestellt: Agathe ist mehrsprachig. Agathe kann mit Sicherheit deutsch, portugiesisch und französisch. Er-sie-es kann man mit hoher Wahrscheinlich davon ausgehen, dass sie auch Suaheli, Farsi und Bayrisch kann.


Also gut, das ist Agathe: eine kleine freundlich aussehende hellblau-weiß bemalte Puppe aus Plastik mit einem beweglichen Kopf. Mit diesem Kopf kann sie nicken. Oder sie kann den Kopf schütteln. Ersteres bedeutet ja, das zweite ist ein Nein. Agathe ist zuständig für Fragen an die Zukunft. (Nach welchem Prinzip sie funktioniert, wird wohl immer ein Rätsel bleiben, wie so vieles im Leben, was man nicht durchschaut, so sehr man sich auch bemüht).


Und für die Vergangenheit habe ich meine Kamera. Ich schieße ein Foto jetzt. Also in der Gegenwart. Dann habe ich es für die Zukunft, denn die Gegenwart ist die Vergangenheit der Zukunft. (Wie tricky diese ganze Gegenwarts-Vergangenheits-Zukunfts-Geschichte ist, wissen wir spätestens seit den genialen „Back to the Future“ Filmen).

Vorgestern zum Beispiel. (Also nahe Vergangenheit. Noch nah, aber doch schon vergangen). In den Thermen von S Pedro do Sul. Ich mache ein Foto von dem schwebenden Wasserhahn, der über der Vouga hängt und eine echte Touristenattraktion ist, und schiebt sich doch so ein Typ ins Bild. Und geht einfach nicht mehr weg. Und nicht nur, dass er nicht weggeht, nein, er zieht auch noch sein Hemd aus, dreht sich um und stellt sich in Pose. Das allerdings wenigstens mit einem Körper, der durchaus ein Kalenderblatt im Benefiz-Kalender der Vancouver Firefighters wert wäre.

Warum er das getan hat? Keine Ahnung.

(Männer sind im Grunde genauso rätselhaft wie Agathen).

Ich würde doch denken, ich hätte mir das womöglich eingebildet, wäre da nicht dieses wunderbare fast pin-up-Foto, das diese Vergangenheit für die Zukunft dokumentiert hat.

Aber jetzt zurück zur Gegenwart. Denn die ist es doch, die zählt. Das berühmte Hier und Jetzt.

Ich mache ab und an die Zauberkiste an. (Also gut, öfter ab und an als ich eigentlich und dann auch noch hier praktisch öffentlich zugeben möchte) und werfe einen Blick in die Gegenwart. Und die ist wirklich ganz erstaunlich.

Hier zum Beispiel – das Paarungsverhalten in der westlichen Welt.

Nix Liebe. Von wegen.

Statt dessen vom Fernsehen arrangierte Ehen. Ausgestrahlt zur besten Sendezeit in der Zauberkiste. Achtzehn gut aussehende Mädels balzen um drei Millionäre, von denen allerdings nur einer echt ist, die beiden anderen tun nur so. Und die Mädels wissen das nicht, aber wir vor der Zauberkiste wissen das.

(Und wenn diese achtzehn wirklich bezaubernd aussehenden jungen Frauen als Singles durch die Welt laufen, und schon zur Zauberkiste gehen müssen um jemanden zu finden, wie soll ich es da erst anstellen? Kann ich doch knicken, jetzt mal ganz ehrlich).

Und dann das hier: Die Zauberkiste besucht streitende Paare, die sich nicht zu schade dazu sind, in aller Öffentlichkeit noch mal so richtig mit ihrem Streit loszulegen. Und ihre unaufgeräumten ungeputzten Wohnungen stellen sie gleich mit zur Schau. Wenn schon, denn schon. Oder wie es auf englisch so schön heißt: in for a penny, in for a pound.

Und hier: ein Mann schickt seinen fünfjährigen Sohn mit gefälschten Fünfzig-Euro-Scheinen auf die Straße, um Süßigkeiten zu kaufen. Da hat das Kind Süßigkeiten und er das echte Wechselgeld. Eine Win-Win-Situation (allerdings nur für die beiden. Für den Laden ist es scheiße. Es ist also eher eine win-win-loose-Situation).

Und dann das hier: eine Frau macht ihrem Mann eine öffentliche Paarberatung, weil er, also weil na sagen wir, weil es im Bett nicht mehr so klappt. (Ich fasse es nicht. Wieso macht er da mit?).

Ich kann – wenn ich möchte, möchte ich aber nicht – anderen Leuten zugucken, wie sie kochen.

Ich kann – wenn ich möchte, möchte ich aber auch nicht – anderen Leuten zugucken, wie sie essen.

Das ist die Gegenwart in der Zauberkiste.

Die Zauberkiste ist wie ein Fenster in das pralle Leben der Gegenwart.

Und jetzt mal ganz ehrlich, da ist doch sehr vieles sehr rätselhaft. Mindestens so unverständlich wie Agathe und die Männer.

Warum tut dieser Millionär das?

Warum lässt sich dieses andere Millionärspaar beim Fische füttern filmen?

Warum lässt der Depp sich öffentlich von seiner Frau vorführen?

Warum streiten sich Leute vor laufender Kamera?

Warum essen Leute Heuschrecken im Dschungelcamp?

Warum strahlt die Zauberkiste das aus?

Warum faszinieren uns Z-Promis?

Und warum sehe ich mir das an?

Oh – das ist einfach, darauf gibt es eine Antwort.

Das ist eine ganz einfache Frage.

Hier ist die Antwort: es ist eine Mischung aus Neugier-Faszination-Staunen-Verblüffung und Fremdschämen. Ein staunendes: das ist die Gegenwart?

Ich sehe eine Weile schaudernd zu und schalte wieder ab.

Ich frage Agathe: Ist die Welt ein Rätsel?

Agathe nickt.

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