Weihnachten

Weihnachten

Sie wollten alle dasselbe. Zum Beispiel Carlota. Schon immer wollte Carlotta schreiben. Aber sie hatte immer gedacht, sie müsste erst was erleben, damit sie etwas zum Drüber schreiben hatte. Andere – fand Carlota – sahen das nicht so. Sie schrieben einfach. Und manche hatten Glück und ihr Buch wurde von einem Verlag veröffentlicht. Manche hatten noch mehr Glück und es wurde von einem renommierten Verlag veröffentlicht. Und die größten Glückpilze waren die, deren Bücher sich auch noch verkauften.
Das Gefühl, dass das Espresso House nur wenige Meter vom Nebeneingang der Thalia-Buchhandlung lag, kam Carlota bedeutungsvoll vor. Dort sollte ihr Buch eines Tages auf dem Tisch liegen, oder wenigstens im Regal stehen. Das will ich, das wollten sie alle, und sie wollte es jetzt auch. Schreib doch ein Buch über dein Leben, hatten viele gesagt. Aber gab ihr Leben das wirklich her, Carlotas Leben?
Weg mit den Zweifeln. Jetzt wird geschrieben.
Sie holte ihr Notizbuch aus dem Rucksack, den Füller. Dann den Laptop. Eigentlich fand Carlota: Schreiben mit Füller in Leder-Notizbuch ist stilvoller. Aber das machten ihre Hände nicht mit. Zu schnell taten ihr die Finger weh, sie drückte zu doll. Manchmal war Carlota so: Sie drückte zu doll. Und dann war alles kaputt.
So wie mit Alfons. Was für ein blöder Name, wer hieß heutzutage noch Alfons, praktisch niemand und ausgerechnet sie musste an einen geraten.
Sie hatte Alfons sofort toll gefunden. Alles an ihm. Seine Figur, seine Haltung, seine Spontanität. Seine Frisur, und seine Augen. Alfons hat seelenvolle Augen. Gab es das Wort? Seelenvoll? Wie auch immer, sie waren dunkelbraun. Sie versprachen Glück in der Liebe und Freude im Bett, sie versprachen Treue und Hingabe, Hilfe und Unterstützung. Alfons versprach ihr, sie auf den Händen zu tragen. Und Carlota war so begeistert, dass sie sich voll und ganz in das Abenteuer Alfons stürzte. Und da war es ihm plötzlich zu viel. Er zog sich zurück. Und war nicht mehr zu erreichen. Ganz wörtlich.

Er war nicht mehr zu erreichen.
Die Adresse, die er ihr gegeben hatte, war falsch. Also die Adresse existierte, aber da wohnte niemand namens Alfons. Das Handy war abgeschaltet. Unter dieser Rufnummer kein Anschluss. Aber wie konnte das angehen? Zwei Wochen lang waren sie zusammen gewesen. Allerdings nie in seiner Wohnung, und komisch, dass Carlota das erst jetzt auffiel. Sie waren immer bei ihr gewesen. Oder im Restaurant, im Café, in der Kneipe in der Gertigstraße.
Carlota war also in diese Kneipe gegangen und hatte dort nach Alfons gefragt. Und da hatten sie ihr gesagt, Alfons wäre jetzt in Frankreich. Und nein, sie hatten keine Adresse.
“Kann ich mal in die Küche gucken?”, hatte Carlota gefragt, weil sie dachte: Was, wenn Alfons sich dort versteckt? Der Barmann hatte mit den Schultern gezuckt und in die Küche gerufen: “Carlos, da kommt jemand in die Küche”.
“Was will der jemand hier?” kam es aus der Küche zurück.
“Gucken, ob Alfons sich da versteckt”, hatte der Barmann geantwortet.
Und Carlota stand weiter vor dem Tresen und jetzt kam ihr die Aktion auch absurd vor.
“Von mir aus”, rief es aus der Küche.
Und nein, es war nicht Alfons´ Stimme, sondern die von Carlos. Und dann hatte es kein Zurück mehr gegeben. Carlota war in die Küche gegangen und hatte sich umgesehen. Sauber genug, um keinen Ärger mit dem Gesundheitsamt zu bekommen. Ziemlich klein, ein Wunder, dass die hier manchmal zwanzig Essen fast gleichzeitig machten. Und gutes Essen. Alfons nahm meistens ein Steak. Carlota war ja eher Vegetarierin. Sie aß Nudeln oder so was. Jedenfalls ohne Fleisch. Und plötzlich eines Abends hatte sie zu Alfons gesagt: “Wenn wir zusammenwohnen, dann esse ich auch Fleisch.”
Am nächsten Tag war Alfons weggewesen.
Und diese Geschichte würde sie jetzt erzählen.
Von ihrer großen Liebe und wie sie sie erdrückt hatte, denn es war ihr Fehler, das war ihr jetzt klar. Und wenn sie andere Eltern gehabt hätte, wäre das vielleicht nicht passiert und genauso würde sie es aufschreiben. Und dann würde Alfons es eines Tages lesen, in Frankreich, wenn das Buch auch auf französisch erschienen war, und er würde seinen Fehler einsehen und würde zu ihrer Lesung kommen, extra für sie nach Hamburg oder München fahren, oder Basel, weil das näher an Frankreich war, nein, Alfons würde bis ans Ende der Welt fahren, um sie wiederzusehen. Und wenn es Kapstadt wäre, denn nach dem Buch würde er wissen: Carlota war seine große Liebe. Sie musste es ihm nur erklären.

Erklären, dachte Carlota, also erklären passt jetzt nicht so ganz, lieber –
“Ist hier noch frei”, eine Frau zeigte auf den Stuhl gegenüber.
“Tur mir leid”, sagte Carlota. “Ich brauch den Platz hier für mich. Ich bin am Schreiben, ich muss mich konzentrieren.”
Die Frau sah auf das nicht aufgeschlagene Notizbuch. Dann beugte sie sich vor und sah das leere Dokument im PC.
“Aber natürlich”, sie grinste süffisant. Und Carlota dachte: süffisant, genauso sieht dieses Grinsen aus, das Wort werde ich unbedingt verwenden. Sie überlegte noch, wer süffisant grinsen sollte, sie oder Alfons. Mmhh …
“Ja, dann schreiben Sie mal schön”, sagte die Frau. “Viel Erfolg”.
Carlota gab dem Dokument einen Namen: Alfons.
Dann fing sie an zu tippen:
Es war an einem Abend kurz vor Weihnachten.
Nein, das war zu banal. Weg damit. Carlota löschte. Sie schrieb stattdessen.
Zwei Wochen vor Weihnachten – WEG damit, banal, banal, banal.
Sie begann noch einmal: Elf Tage, elf Stunden und elf Minuten vor dem Weihnachtstag verliebte sich Sarah Schulz in einen Mann, mit dem sie genau zehn Tage, zehn Stunden und zehn Minuten zusammen sein würde, bevor er aus ihrem Leben wortlos verschwand. Er würde die große Liebe ihres Lebens werden.
Carlota schlug das Notizbuch auf. Machte eine Notiz: Ausrechnen um wie viel Uhr das alles ist. Wann Anfang, wann Ende. Dann zeichnete sie einen Weihnachtsbaum mit Stern obendrauf. Hängte ein paar Kugeln rein. Unten ein paar Striche, damit der Baum nicht einfach so auf dem Blatt, in der Luft, schwebte.

“Darf ich”, sagte eine Männerstimme.
Und für einen Moment dachte Carlota, es wäre Alfons. Aber war er natürlich nicht. Es war ein älterer Mann und vom Aussehen her war er entweder ein Weihnachtsmann oder ein Obdachloser. Aber ein Obdachloser würde sich hier im Espresso House nichts leisten können. Also doch der Weihnachtsmann.
“Klar”, sagte Carlota, weil das Café jetzt wirklich rappelvoll war. Und weil sie nicht diskrimierend sein wollte. Weder gegen Weihnachtsmänner, noch gegen Obdachlose, noch gegen Männer im Allgemeinen.
“Danke”, sagte der obdachlose Weihnachtsmann und griff zu. Mit einer schnellen Bewegung nahm er Carlotas Kaffee und trank ihn auf ex aus.
“Hören Sie mal”, sagte Carlota, “das ist mein Kaffee.”
“War”, sagte der Mann.
“Wie bitte?”, fragte Carlota.
“War”, sagte der Weihnachtsmann, “es war Ihr Kaffee. Wenn Sie schreiben wollen, sollten Sie sich schon genau ausdrücken”.
“Das ist doch”, sagte Carlota, “also das ist doch …”
“Und besser darin werden, Wörter zu finden”, sagte der Mann. “Gerade dieser Akt hat so viele linguistische Möglichkeiten, verletzend, unverschämt, grob, ausfallend, daneben…”
“Na vielen Dank aber auch”, sagte Carlota, die langsam wütend wurde.
“Gern geschehen”, sagte der Obdachlose / Weihnachtsmann. “Und Sie sind mir auch nichts schuldig”.
“Ich?”, sagte Carlota. “Ich Ihnen was schuldig??”
“Für die Lektion”, sagte der Mann. “Ist gratis”.
“Ich glaube, es hackt”, sagte Carlota.
“Zerteilen, zerquetschen, raspeln, stoßen, spalten”, sagte der Mann.
Carlota nahm ihren Füller wieder in die Hand und sah auf ihre Zeichnung. War es ein Fehler gewesen, diesen Weihnachtsbaum zu zeichnen? Sie sah hoch, der Mann war weg. Hatte sie es geträumt? Nö, hatte sie nicht. Der Kaffee war weg, der Becher leer.

Draußen vor dem Fenster ging ein Weihnachtsmann vorbei. Er grinste. Süffifant, dachte Carlota, süffisant.
Und dann dachte sie, jetzt wird es aber Zeit, jetzt werde ich wirklich schreiben, und wenn Alfons dann irgendwann das Buch in Paris oder Bordeaux oder Lyon in einer Buchhandlung sieht, dann wird er aber staunen. Aber dann will ich ihn auch nicht mehr zurück. Das ist dann vorbei.
Zufrieden legte sie ihre Hände auf die Tastatur und fing an zu tippen.
“Ausgerechnet vor Weihnachten. Augerechnet in den Feiertagen musste es passieren. Hätte es etwas an der Geschichte geändert, wenn es vor Ostern gewesen wäre? Vermutlich nicht.”

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